Kompass Europa – Die Sterne des Südens
Die folgenden Texte sind in den Workshops der Schreibwerkstatt 2024 entstanden. Wir danken Henrik Pohl und Danilo Fioriti für die inspirierende Begleitung und den Autorinnen und Autoren der Texte für die Genehmigung zu deren Veröffentlichung
Woher ich komme?
Ich komme aus der Wäscherei,
die feucht und heiß war im Sommer, nach Waschmittel roch,
der Großwäscherei
mit ihren italienischen, portugiesischen und türkischen Arbeiterinnen.
Ich komme aus dem Haus mit der Großmutter,
die traurig am Fenster sitzt und auf die Rückkehr ihres ältesten Sohnes hofft,
der aber nie zurückgekehrt ist.
Ich komme aus den sonntäglichen Kirchgängen
In kratzenden Sonntagskleidern.
Ich komme aus dem großen Haus mit Garten,
mit seinen Kirschbäumen und Schafen.
Ich komme auch aus der Mutter,
die mich einmal zur Strafe in den Keller schickte,
weil ich einen anderen Jungen in der Schule verhauen hatte.
Bin der, der gerne liest,
manchmal seine kleine Schwester ärgerte,
und nicht immer ausreden durfte
wenn er noch viel zu sagen hatte.
Ich komme aus dem Konservatorium,
wo das Treppenhaus nach dem Pfeifenrauch des Geigenlehrers duftete
und man die Stimmübungen der Sopranistinnen bis hinunter zur Straße hören konnte.
Bin aus einer großen Familie mit vielen Geschwistern, Cousins und Cousinen.
Bin der, den es häufig in die Ferne zog
Und der doch jedes Mal zurückkam.
Bin einer geworden, der eine wichtige Stellung in einem großen Unternehmen innehat
Und eigentlich immer auch klein geblieben ist.
Ralph Bohr
Woher ich komme?
Ich bin aus fünf Katzenbabys, die genau fünf Mal zu viel auf der Welt sind, und deshalb von Mutter in eine Blechdose gebettet werden, mit Watte und Äther. Deckel drauf.
Ich bin aus dem Hang, der sich hinunter zur Mainwiese zieht, aus dem rodelnden Holzschlitten.
Ich bin aus Schnee, der an meinen Wollhandschuhen verkrustet.
Ich bin aus der Jungschargruppe, aus den heiteren Nachmittagen und den Bergen im Freizeitland.
Ich bin aus dem Altersheim, dem Abräumen des Geschirrs, dem Blumen-in-Frischwasservase-Stellen, dem Alten-freundlich-Zunicken mit meinem jungen, ach so hilfsbereiten Konfirmandengesicht.
Ich bin aus dem Opel Olympia, der ersten großen Fahrt an die Riviera, dem Schild am Gardaseecampingplatz „Hier wohnt Pietro. Ich spreche Deutsch.“
Brunhild Bast
Vom dunklen Landbewohner
Ich bin aus dem dunklen Land
Aus dem meine Mutter mich verbrachte
In das kleine Dorf
Ich bin aus der Kirche
Bin aus dem Hier-ist-die-Welt-noch-in-Ordnung-Land
Ich bin aus dem Kirschbaum
Aus dem Sommer der Apfelbäume
Bin aus den Schlägen des Pfarrers
Bin aus dem Forellen im Bach
den Krebsen und Kaulquappen
Bin aus dem Schimpfen und Strafen der Erzieher
Aus den Lehrern und den alten Nazis
Ich bin aus den Abenteuern
der Steinbrüche und Hecken
Ich bin aus der ersten Liebe
Bin aus der Freiheit der langen Haare
Die mit der Freiheit ins kleine Dorf wuchsen
Dem Entsetzen der Alten
Dem Direktor der prophezeite
Ich würde unter der Brücke landen
Ich bin aus der ersten Liebe
Dem Fußball
Und der Musik
Die mich befreiten aus der Enge des kleinen Dorfes
Ich bin aus dem Nest
In dem meine Eltern mich brüteten
Und nicht festhalten konnten
Ich bin aus dem dunklen Land
Aus dem meine Mutter mich verbrachte
In das kleine Dorf
Ich bin das dunkle Land
Bin das kleine Dorf
Michael Matheis
Schon wieder diese Übelkeit nach dem Aufstehen. Seit mehreren Tagen geht das so. Aufwachen, ins Bad rennen, erbrechen. Heute ist es besonders schlimm. Mai-Ling hat die Tür zum Bad verschlossen. Für alle Fälle. Er hat das Haus schon früh verlassen, aber kann sie wirklich sicher sein, dass er nicht zurück kommt? Er ist fleißig und verdient gutes Geld. Er ist freundlich, weiß sich zu benehmen und hat immer einen flotten Spruch auf den Lippen. Wohl deshalb haben die Eltern diesen Mann für sie ausgesucht. Zu ihrem 20. Geburtstag überzeugte sich die Kommunalverwaltung von ihren Kenntnissen der Empfängnisverhütung und genehmigte die Heirat. Mai-Ling konnte sich mit dieser Ehe gut arrangieren. Sie mag Ihn, größere Erwartungen an eine Beziehung hatte sie nicht. Seit mehreren Jahren treibt Er regelmäßig Sport, immer dienstags abends. Das gibt ihr die Gelegenheit, sich mit ihren Freundinnen zu treffen. Ihr ist übel. Schon zweimal hat sie heute erbrechen müssen und das vor dem Frühstück. Nicht auszudenken, wenn Er das bemerken würde. Die Kadertreffen der Partei scheinen immer dienstags Abends stattzufinden. Sie traut Ihm nicht. «Das erste Kind fördern, das zweite Kind vermeiden, das dritte Kind ausrotten», schießt es durch ihren Kopf. Jeden Tag auf dem Weg zur Arbeit kommt sie an diesem Plakat vorbei. Darauf ist ein Mann, eine Frau und ein Kind zu sehen. Sie lachen glücklich. Bis jetzt erfüllt auch ihre kleine Familie die Vorgaben der Partei. Auch ihre Arbeit beginnt früh. Aigo schläft noch. Bald wird sie ihr Kind wecken und zur Betreuung bringen. Vor drei Jahren hat es sich durch eben diese Übelkeit angekündigt. Mai-Ling wusste das morgendliche Erbrechen zunächst nicht einzuordnen, dann aber freute sie sich auf das neue Leben. Und jetzt? «Zieht weniger Kinder auf und dafür mehr Schweine!» Die offiziellen Regeln begegnen ihr auf Schritt und Tritt. Mai-Ling kennt keine einzige Familie mit zwei Kindern. Die Methoden sind ein offenes Geheimnis. Frauen ihren Alters kamen gebrochen aus sogenannten Kliniken zurück, weigerten sich, über ihre Erfahrungen zu sprechen. Doch ihr Zustand sprach für sich. «Haus zerstört, Kühe konfisziert, das kommt davon, wenn man sich Abtreibungsaufforderungen widersetzt!» tönt es in ihrem Kopf. Mai-Ling läuft ein Schauder über den Rücken und löst ein neues Erbrechen aus. Viel ist nicht mehr im Magen, sie muss würgen. Eigentlich braucht sie den Schwangerschaftstest nicht mehr. Kleine tapsige Schritte auf dem Flur enden vor der Tür zum Bad: „Mama?“ O Schreck, schnell einen Schwapp kaltes Wasser ins Gesicht. Der Kleine könnte dem Vater erzählen, wie er seine Mama vorgefunden hat. Er hat eine innige Beziehung zu diesem Sohn, der seinen Namen weitertragen und die Ahnen verehren wird. Was wird Er tun, wenn Er Verdacht schöpft? Sie öffnet die Tür. Barfuß, in seinem karierten Schlafanzug, den geliebten Stofflöwen fest umklammert, schaut der kleine Junge sie verschlafen an. Sie zieht ihn auf ihren Schoß und drückt ihn fest an sich. Eine warme Welle der Zuneigung beruhigt den Aufruhr in ihrem Körper. „Ein Kind ist genug!“ Kleine Arme schlingen sich um ihren Hals. Ihre Nase fängt einen vertrauten Duft nach warmem Bett ein. Ihr Atem stockt und ihr Herz verkrampft. Ein solches Wesen soll sie mit einem scharfen Messer aus ihrem Leib herauskratzen lassen? Plötzlich durchzuckt sie ein Gedanke wie ein Blitz. Chen Lu – ihre Schulfreundin. Vor einigen Jahren war sie plötzlich fort. Der Ehemann versuchte, die Sache zu vertuschen, aber nachdem auch das Kind verschwunden war, begann die Polizei mit der Suche. Mai Ling hoffte damals heimlich, dass sie nicht gefunden würden. Nach einigen Monaten bekam sie einen gut verschlossenen Brief aus Australien. Ein Foto zeigte Chen Lu, ihren kleinen Jungen und ein Baby. Mai-Ling schluckt eine neue Welle der Übelkeit erfolgreich hinunter. Das neue Leben liegt allein in ihrer Hand. Er wird niemals gegen das Gesetz verstoßen. Ihr Entschluss beginnt zu reifen.
Eva Sperber