Nachruf Roland Paul

Für Roland Paul, 

den neugierigen, pfälzischen Geschichtsweltreisenden 

Roland Paul, der Historiker und ehemalige Direktor des Instituts für Pfälzische Geschichte hat bei Chawwerusch Theater einiges in Bewegung gebracht.

Er war kein Historiker, der seine Schätze hütete. Er war großzügig im Teilen – seien es historische Details oder ganz persönliche Geschichten von Menschen, die in der Pfalz gelebt haben. Sein interessantes Material hat in unserem Theater einige Steine ins Rollen gebracht.

Roland Paul, der uns schon vorher ein Begriff war, haben wir 1994 bei Recherchen zu unserem Stück ‚Heimwärts in die Fremde‘ kennen und schätzen gelernt. Ihm war das Chawwerusch Theater bereits ein Begriff und er wusste gleich, dass wir uns nicht (nur) für die harten Fakten über pfälzische Aus- und besonders Rückwanderer interessierten, sondern für Menschen, ihre Motivationen, Probleme und Träume.

Roland war auf unsere tausend Fragen vorbereitet. Viele interessante Zeitdokumente aus dem Archiv, Briefe, Schiffsfahrpläne und Tagebücher lagen zur Einsicht bereit. Aber noch weit wichtiger war, dass Roland auch ein begnadeter Erzähler war, der uns, mit großer Empathie und mit großem Detailwissen, die Auswandererbiographien erlebbar machen konnte. Das war keine kühle, faktische Wissensvermittlung, sondern eine kompetente und doch fantasiereiche Erzählung, Plots mit Pointen und einem sehr guten Gespür für unser theatrales Interesse.

Auch bei den Recherchen zu „trotz alledem!“ versorgte uns Roland 1996/97 mit Dokumenten und Informationen zur deutschen demokratischen Revolution 1848, insbesondere der pfälzischen im Jahr 1849. Auch hier konnte er uns die Ereignisse aus der Perspektive der „einfachen Menschen“, Handwerker, Hebammen und Wirtsleute vermitteln und auch die unterschiedlich politischen Strömungen dieser Zeit einordnen.

Seine umfassende Forschungsarbeit zur jüdischen Geschichte in der Pfalz, vor allem aber auch die von ihm veröffentlichten Briefe der nach Gurs deportierten Juden, waren mit Grundlage und Bausteine des Stationentheaters ‚Landauer Leben‘. 

Ohne Roland Paul wären viele unserer Geschichts-Stück so nicht zustande gekommen.
Sein Blick galt dem Schicksal der Menschen, die aus purer Notwendigkeit oder unter Zwang ihre Heimat verlassen mussten. Mit seiner beständigen Neugier erschuf er ein einzigartiges Netzwerk von Geschichten, Geschichte und Freundschaften. 

Er war unserem Theater immer verbunden. Roland war ein herzlicher, umgänglicher und fröhlicher pfälzischer Zeitgenosse, der immer für uns seine Augen und Ohren und seinen Mund öffnete. 

Wir vermissen einen der besten Kenner der pfälzischen Geschichte, den leidenschaftlichen Spurensucher und akribischen Geschichtensammler sehr.

Adieu Roland

Herxheim, 15. April 2024

Die Pfalz als Familie 

Eine nachdenkliche Annäherung an Roland Paul

Vermutlich haben viele Anwesende Roland Paul besser gekannt als ich, der ich aus Rheinhessen komme, wenn auch von der Grenze zur Pfalz. Diese Verortung scheint mir bedeutsam, weil sie einen Blickwinkel auf die Person Roland Pauls einnimmt, der auch seine Region, nämlich die Pfalz von außen und gleichzeitig aus der Nähe wahrnimmt. 

Ich habe meine Annäherung überschrieben mit „Die Pfalz als Familie“. Auf diese Spur hat mich ein kurzes Gespräch mit Roland Paul bei der Verleihung des Hermann-Sinsheimer-Preises im März 2023 an Carolin Emcke gebracht. Am Rande der Veranstaltung sprach er mich an und erzählte mir, er habe von einer Frau mit Nachnamen Gallé ein Konvolut an Familienüberlieferungen erhalten, das ihm zur Bearbeitung übergeben worden sei. Ob ich mir das einmal ansehen könnte. Dabei hatte ich das Gefühl, das er diesen Arbeitsauftrag, den er offenbar in aller Freundlichkeit angenommen hatte, einerseits gern loswerden und andrerseits in gute Hände übergeben wollte. Ich habe in aller Freundlichkeit zugesagt mit der Anmerkung, dass ich die genannte Familie nicht persönlich kennen würde, aber zu einem Blick in die Unterlagen bereit sei. Zu einer Übergabe der Papiere ist es dann aber nicht mehr gekommen. Ich hatte – unabhängig von unseren durchaus ähnlichen, aber dennoch unterschiedlichen Interessen – den Eindruck, dass wir offenbar  in verwandten Situationen ähnlich empfunden und gehandelt haben. Wir konnten beide nicht Nein sagen. Wir wollten freundlich sein, sahen das Angebot an uns auch durchaus im Bereich unseres selbst gestellten Auftrags, fühlten uns aber andrerseits etwas überfordert, wissend, dass zu hause noch viele andere solche Konvolute auf Bearbeitung warteten. Wir haben uns also in etwas so verhalten wie in einer Familie, wo man erst mal Hilfe zusagt, wenn man um etwas gebeten wird, und zwar auch dann, wenn man eigentlich schon ganz andere Vorhaben ins Auge gefasst hat.. 

Roland Paul war Vorsitzender im Verein Pfälzisch-Rheinischer Familienkunde, der mit rund  750 Mitgliedern im In- und Ausland zu den größten genealogischen Vereinen in Deutschland gehört. Der Verein unterhält im Stadtarchiv Ludwigshafen eine pfälzische (und rheinhessische) Familiennamenkartei mit rund 1 Million Namen. In einem Nachruf von Dagmar Gilcher in der Rheinpfalz unter dem Titel „Ein Herzensmensch“ heißt es, er sei „einer gewesen, der alle, die er kannte, auf eine wundersame Weise miteinander verband“. Er „verwaltete Nachlässe von Menschen, die ihm vertrauten, kümmert sich aufopferungsvoll um alleinstehende Verwandte da, um die Witwe eines Freundes dort – und eilte dann zu einem Begräbnis, wo man ihn um die Abschiedsworte gebeten hatte.“ Er war also wohl ein Familienmensch, und zwar auch über den Kreis der eigenen Familie hinaus. 

Michael Garthe schrieb in der selben Zeitungsausgabe von ihm als einem „Unersetzlichen, der die Pfalz mit der ganzen Welt verband.“ Damit wird der pfalzfamiliäre Beziehungskreis noch einmal deutlich erweitert. In einem Nachruf auf der Website compgen.de heißt es, Roland Paul habe in seiner Zeit beim Institut für pfälzische Geschichte und Volkskunde „die Ein- und Auswanderer-Kartei als größte Migrationsdatei in Deutschland betreut. Neben der pfälzischen Ein- und Auswanderung waren die Geschichte der Pfälzer Juden und die Volkskunde und Museen in der Pfalz sein Arbeitsgebiet. Er hat sehr viele Reisen in die Zielländer der Auswanderer unternommen und Vorträge vor Historikern und genealogischen Vereinen gehalten, darunter allein 60 mal in den USA.“ An seinem Sterbetag sei ein Vortrag vor den Munzinger-Familien in Quirnbach geplant gewesen, zu dem es aber nicht mehr kam, weil Roland Paul noch vor dem Vortrag zusammenbrach. 

Kurz: Roland Paul suchte die Pfalz im Inland wie im Ausland offenbar wie eine ziemlich große Familie zusammen zu halten. Ich wage die Vermutung, dass dieser Anspruch trotz allen Wissens, aller Netzwerke und aller beruflichen und zivilgesellschaftlichen Unterstützung die Möglichkeiten einer einzelnen Person übersteigen musste. Aber es gab und gibt dazu in der Pfalz wohl ein Bedürfnis.

Die Pfalz ist ein Raum von Menschen, die aus verschiedenen Kulturen herkommend immer wieder neu ihre Herkunftsimpulse in Sprache und Verhalten zu einer regionalen Selbsterzählung verschmolzen haben und das auch gegenwärtig und hoffentlich auch zukünftig tun. In einem Beitrag für die Website auswanderermuseum.de schrieb Roland Paul: „War die Pfalz nach der großen Entvölkerung während des Dreißigjährigen Krieges und des Pfälzischen Erbfolgekrieges bald zu einem regelrechten Einwanderungsland geworden, so wurde sie schon im 18. Jahrhundert zu einer klassischen Auswanderungsregion. Schon im Dreißigjährigen Krieg waren Tausende von Bewohnern aus dem pfälzischen Landen geflüchtet. 

In den Kirchenbüchern manch weit entlegener Orte kann man daher lesen: „wegen der allzu großen Kriegsnoth aus der Pfaltz hierher geflüchtet“. In der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts finden wir die ersten Hinweise auf Auswanderungen nach Übersee.“ 

Der Zusammenhalt nach innen wie nach außen wurde immer wieder organisiert über Kontakte auf der Basis familiengeschichtlicher Neugier und Kenntnis. So organisierte der Kaiserlauterner Landrat Fritz Braun im Jahr 1962 erstmals ein „Welttreffen der Pfälzer“, an dem einige hundert Nachkommen von Pfälzer Familien teilnahmen, die nach Nordamerika ausgewandert waren. Dass bei solchen Projekten in der Pfalz immer eine Spur Größenwahn mitschwingt, sieht man am Begriff des Welttreffens. Der erinnert in seiner wohlmeinenden Übertreibung an Paul Münchs augenzwinkernde „Pälzisch Weltgeschischd“. 

Ich wage daher die These, dass sich die Pfalz als Familie versteht, nicht in einem völkischen oder gar genetischen Sinn, sondern im Sinn von Beziehungen, durch die Ähnlichkeiten und Unterschiede festgestellt und erlebt werden, also über die Person als Resonanzraum. Das kann nicht über eine Person allein geleistet und nachhaltig gewährleistet werden, selbst wenn es sich dabei um einen so genannten „Berufspfälzer“ wie Roland Paul handelt. Andrerseits ist die zwischenmenschliche Dimension eines solchen Konzepts überaus sympathisch. Und genau deshalb sind auch über die üblichen Familienkontakte hinaus auf regionaler Ebene „Berufspfälzer“ als Vermittler entstanden.  Es versteht sich  allerdings schon allein auf Grund dieses Berufsbegriff, dass es sich dabei bei aller ideellen Motivation nicht allein um eine oder mehrere Ehrenämter handeln kann, sondern um eine hauptamtliche Tätigkeit, die von der Region finanziert werden muss, und zwar auf Grund der Demokratisierung und Segmentierung in der heutigen Gesellschaft mehr denn je. Flache Hierarchien und die Suche nach Identitätsmerkmalen unterschiedlichster Provenienz erfordern ein deutliches Mehr an Kommunikation, das nicht mehr ohne hauptamtliche Vermittler auf lokaler und regionaler Ebene leistbar ist.

Was ist also angesichts der offensichtlichen Lücke, die der Tod vom Roland Paul in das Konzept von der Pfalz als großer Familie gerissen hat, die beste Antwort, wenn man an diesem Konzept festhalten will? Man muss all das, was er über Jahre gesammelt hat, aufarbeiten, man muss es aber auch fortsetzen in Gegenwart und Zukunft, in der Begegnung ermöglicht werden muss im Aus- und Einwanderungsland Pfalz. Dazu braucht es  nachhaltige Strukturen auf regionaler Ebene, die es aushalten, sich in persönlichen Begegnungen als Familie zu betrachten trotz des sich erweiternden Tableaus an Unterschieden. Erschöpfung einzelner Personen sind dabei zwar legitim, sollten am besten aber nicht nur erlaubt, sondern bereits möglichst im Vorfeld bemerkt und vermieden werden, damit man der Idee von einem oder mehreren „Welttreffen der Pfälzer“ wiederholt nachkommen kann. Es könnte dann sogar zu einem Treffen der Pfälzer mit der Welt werden, bei dem das durch Begegnung mit Ein- und Auswanderung über Generationen gesammelte Wissen Lösungsansätze für Konflikte ausdenken könnte, gegenüber denen man sich heute als einzelner manchmal ohnmächtig fühlt.

Ich könnte mir vorstellen, dass so etwas Roland Paul gefallen haben könnte. 

Volker Gallé

Literarische Lese Freinsheim am 26. Mai 2024

Erlauben Sie mir, mit einem Heimat-Lied zu beginnen. Ich bin sicher, es wäre in seinem Sinne. Roland Paul war ein Mensch, der die Heimat zu schätzen wusste, der vor allem ermessen konnte, was es bedeutet, die Heimat zu verlieren.

Dabei war ihm die enorme Bedeutung der Sprache als Ausdruck von Identität und Verwurzelung klar. Auch deshalb hatten wir einen guten Draht. Selbst wenn ich kein Pfälzer bin, sondern Kurpfälzer, gebürtiger Heidelberger. Es mag gewisse Unterschiede geben, aber nach meiner Erfahrung verstehen wir uns einfach.

Für Zugezogene allerdings bleibt es eine Herausforderung. Wir sagen ja nicht von hier, wir sagen:

Mia sin vun doo (Song)

Kennengelernt habe ich Roland Paul durch die Hermann-Sinsheimer- Plakette. Als sein Vorgänger als Preisträger durfte ich 2016 die Laudatio

auf ihn halten, und ich muss gestehen, ich kannte ihn vorher überhaupt nicht. Zur Vorbereitung fuhr ich nach Kaiserslautern, besuchte ihn an seinem damaligen Arbeitsplatz im Institut für Pfälzische Geschichte und Volkskunde.

Was als kurzes Gespräch geplant war, entwickelte sich zu einer ganztägigen Begegnung, die bis weit in die Abendstunden dauerte. Es hätte nicht viel gefehlt, und ich hätte mir ein Hotelzimmer gesucht.

Wir verquatschten uns, redeten nicht nur über seinen Werdegang, seine Arbeit, wir redeten sehr bald über Gott und die Welt. Was mir bei ihm sehr schnell auffiel, er antwortete nicht nur auf meine Fragen, erzählte nicht nur von sich, nein, er interessierte sich auch für den Fragesteller, er interessierte sich für mich. So kamen wir ins Gespräch. Was ganz andere Ebenen eröffnet.

Dabei sparte er auch schwierige Phasen in seinem Leben nicht aus. Wir waren uns also nicht nur sympathisch, wir fassten Vertrauen zueinander. Dabei musste mich Roland Paul nicht bitten, bestimmte Dinge nicht in meiner Laudatio zu erwähnen, ich wiederum musste ihm nichts in dieser Hinsicht versprechen, es verstand sich von selbst.

Und damit sind wir bei etwas, ohne das Roland Pauls beeindruckendes Lebenswerk nie zustande gekommen wäre: Vertrauen. Denn Roland Paul war nicht nur Völkerkundler, bloßer Sammler, Archivar, kein Buchhalter der Einwanderer und Auswanderer. Bei seiner Arbeit sorgte er dafür, dass nicht Zahlen, Daten, Namen, Statistiken im Mittelpunkt stehen, sondern die Menschen. Dem Einzelnen und dessen Schicksal galt seine Aufmerksamkeit.

Er erkannte rasch, mit bloßem Aktenstudium kommt man nicht weit. Er machte sich auf Spurensuche. Weltweit. Suchte die persönliche Begegnung. Der Dialekt, das Pfälzische, das er als Muttersprachler beherrschte, kam ihm hier sehr zugute. Aber das genügte bei weitem nicht. Ein wesentlicher Schwerpunkt seiner Arbeit war ja die Geschichte der Pfälzer Juden nach 1933. Da war es eine gewaltige Herausforderung, Vertrauen zu schaffen. Denn der Historiker und Völkerkundler Paul stammte aus dem Land der Täter. Geboren zwar im Nachkriegsdeutschland, doch ein Deutscher mit französischen, italienischen Wurzeln, ohne jüdische Vorfahren. Er erzählte mir, wie er für seine Recherchen an eine Jüdin in New York schrieb, auf deren Namen er in einem Dokument gestoßen war. Er bat sie schriftlich um Auskunft. Als auch nach mehrmaligem Nachhaken nichts kam, rief er sie kurzerhand an. Sie reagierte kurz und schroff: „Der Heimatstelle Pfalz (das stand damals noch auf dem Briefkopf seines Schreibens) der Heimatstelle Pfalz antworte ich nicht!“ Doch auch sie schenkte ihm irgendwann ihr Vertrauen.

Indes, solches Vertrauen musste er nicht nur in jedem Einzelfall erlangen. Er musste es anschließend in seinen Veröffentlichungen rechtfertigen. Auch da hätte so manches schief gehen können, mal eben eine unnötige Grenze überschreiten zugunsten einer reißerischen, öffentlichkeitswirksamen Geschichte, mit der man sich schmücken kann. Das passierte Roland Paul nicht, denn er war sich seiner Verantwortung immer bewusst.

Wie viel Vertrauen ihm entgegengebracht wurde, das spiegelt sich in seinen unzähligen Veröffentlichungen wider. Ich erinnere mich gut an sein Lächeln, als ich in meiner Laudatio diese besondere Gabe, diese Qualität erwähnte. Verschmitzt, bescheiden.

Vor drei Tagen feierte unser Grundgesetz 75. Geburtstag. Was für ein Glück, dass wir in den Genuss dieser umfassenden Freiheitsgarantie gekommen sind und weiter kommen.
Auch das wusste Roland Paul, Jahrgang 1951, zu schätzen.

Und wir stießen damals gegen Ende unseres ersten gemeinsamen Tages in einer Kneipe in Kaiserslautern auf eine biografische Gemeinsamkeit, die uns eben dieses Grundgesetz möglich gemacht hat: Wir beide durften den Kriegsdienst verweigern.

Roland Paul kam später immer mal wieder zu meinen Auftritten. Das hat mich jedes Mal enorm gefreut. Und ich wusste, er versteht genau, was ich meine mit meinem:
Wemm gheaschn Du? Wu gehschn hie?
Des weeß ma manschmol, awwa imma nie.

Noch etwas teilten wir beide: Roland Paul war wie ich der Evangelischen Kirche verbunden. So war er 18 Jahre Mitglied der Landessynode der Evangelischen Kirche der Pfalz und Vorstandsmitglied im Verein für Pfälzische Kirchengeschichte.

Lassen Sie mich deshalb am Schluss meines Beitrages ein Lied aus dem Evangelischen Gesangbuch spielen, dessen Botschaft Roland Paul ganz gewiss teilte: Ins Wasser fällt ein Stein, ganz heimlich, still und leise; und ist er noch so klein, er zieht doch weite Kreise.

Arnim Töpel

Roland Paul: Der Türöffner

Wer wie ich Anfang der 1990er Jahre im Pennsylvania Dutch Country in den USA linguistische Studien durchführen wollte, brauchte „Türöffner“ und damit Menschen, die relevante Dialektsprecher kannten und einen Kontakt herstellen konnten. Vertrauen war hier wichtig, denn manche pennsylvanisch-deutsche Gruppen wie Amish oder konservative Mennoniten waren vorsichtig, wenn es um Kontakte mit Fremden – zumal von der Universität – ging. Das sind sie noch immer.

Ich hatte zwei Türöffner: Prof. C. Richard Beam (1925-2018) für die konservativen Sektengruppen in Lancaster County, und Roland Paul (1951-2023), der mich mit Prof. Don Yoder (1921-2015) bekannt machte und mir so die pennsylvanisch-deutsche Welt der Lutheraner und Reformierten erschloss.

Roland hatte ich 1992 am Institut für pfälzische Geschichte und Volkskunde in Kaiserslautern kennengelernt. Allerdings eher im Vorübergehen, denn Ziel meiner damaligen Besuche war die Arbeitsstelle des Pfälzischen Wörterbuchs – ein Projekt, das Dr. Rudolf Post betreute und 1998 auch mit der Publikation des letzten Bandes zum Abschluss brachte. […]

1997 gründete ich die pfälzisch-pennsylvanische Zeitung „Hiwwe wie Driwwe“, die noch heute erscheint und die Ausgangspunkt für eine ganze Reihe von Projekten zum selben Thema war und ist. Erst ab diesem Zeitpunkt waren Roland und ich in regelmäßigem Kontakt. Don Yoder hatte ich zu diesem Zeitpunkt mit Rolands Hilfe zweimal in einer Bibliothek getroffen, aber da der Kontakt aufgrund des gemeinsamen Interessensgebietes der pfälzisch-amerikanischen Nordamerikaauswanderung nun immer enger wurde, legte Roland mir einen längeren Besuch in Don Yoders Landhaus in Devon (PA) nahe. Ich wusste, dass Roland bei seinen längeren Pennsylvania-Aufenthalten immer in der kolonialen Villa von Don Yoder wohnte – und Don war bereit, mich auch privat zu empfangen, so dass ich in den Jahren zwischen 2000 und 2015 immer einmal wieder für mehrere Stunden Gelegenheit hatte, mich mit einem der Väter der pennsylvanisch-deutschen Volkskunde auszutauschen. Immerhin war Don Yoder einer der Gründer des Kutztown Folk Festivals im Jahr 1951.

Mit Don sprach ich über Geschichten, die ich im Rahmen meiner linguistischen Studien auf Band aufgenommen hatte, und die mir zum Teil als Pfälzer eigenartig vertraut vorkamen. Bei anderen stand ich völlig im Wald und konnte mir auf nichts einen Reim machen: Da sprach eine Frau von einem „Bucklich Maennli“, das bei ihr neben dem Herd in einer unaufgeräumten Ecke der Küche wohnte. Ein Mann berichtete von einer Vogelscheuche auf dem Feld, die er „Butzemann“ nannte und die Opfergaben erhielt. Ein anderer machte alljährlich im März eine Prozession um sein Grundstück herum, sagte eigenartige Sprüche und legte in allen Ecken Samen als  Geschenke für Elfen ab und Teile eines Fisches für Katzen, die einer Gottheit mit Namen „Frouwa“ gehörten. Letztlich fand ich in einem Kochbuch das Rezept für Hirschgeweihkekse („antler cookies“), die im Februar gebacken werden, um sie im Wald als Opfergabe für den „Waldmops“ abzulegen. Kurz: Es waren ganz seltsame Geschichten, die irgendwie nicht und irgendwie doch zusammenpassten. Konnte es sein, dass sich mir in Pennsylvania eine Tür geöffnet hatte, um über die kulturellen Praktiken der Pennsylvania-Deutschen einen Blick auf die Pfalz und die Pfälzer im 18. Jahrhundert zu erhalten? Heute kann ich sagen, dass das genau so ist. Ich gehe noch einen Schritt weiter und sage, man kann die Pfalz vielleicht überhaupt nur verstehen, wenn man die für die Pfalz relevanten Auswanderungsgesellschaften besucht und von ihnen lernt, wie unsere Vorfahren in der Pfalz vor 300 Jahren gelebt und gedacht haben. Auf einmal wird es dann möglich zu erkennen, was wirklich hinter dem Belznickel steckt oder hinter unseren pfälzischen Elwedritsche. Eines sind letztere ganz sicher nicht: Fabeltiere. Don Yoder und ich haben viele Stunden zusammengesessen und miteinander gesprochen: Über Pennsylvania, die Pfalz, Roland Paul und vieles andere. Und manches von dem, was wir ausgetauscht haben, hat weiter in mir gearbeitet und mich auf Wege geführt, an deren Ende – zum Teil erst Jahre später – spannende Erkenntnisse standen.

Im Frühjahr 2023 rief ich Roland an und hatte ihn überraschenderweise auch gleich am Telefon. Ich würde mich gerne mit ihm treffen, sagte ich ihm, weil ich ein neues Buch plane und in dem Kontext seine Meinung zum ein oder anderen inhaltlichen Aspekt haben wollte. Er sagte zu, aber wir vereinbarten keinen konkreten Termin. Zu diesem Gespräch kam es leider nicht mehr, weil Roland Paul am 24. Juni 2023 überraschend verstarb, kurz vor einem Vortrag, den er halten wollte.

Die Chance in Roland Pauls Leben, bei einem Vortrag oder einem Familientreffen zu versterben, war deutlich größer als bei anderen Menschen. Denn wenn ich ihn traf oder sprach, kam er immer von einem Vortrag oder Familientreffen bzw. war auf dem Sprung zu einer solchen Veranstaltung. Bei fast allen Events, die wir gemeinsam besuchten, kam er mit etwas Verspätung an. Sein Terminplan war immer übervoll. Umso mehr rechne ich ihm hoch an, dass er zu meinem 50. Geburtstag, den ich 2015 im Auswanderermuseum Oberalben feierte, nicht nur kam, sondern sogar pünktlich war. Aber er hatte ja auch einen Vortrag zu halten …

Dr. Michael Werner (Publizist, Autor, Musiker)

Ein guter Mensch –  Erinnerungen an Roland Paul

„Wo ist Roland?“: Das wäre der Titel des Dramoletts, wollte man eines über Roland Paul schreiben und zur Aufführung bringen. „Wo ist Roland?“ war die übliche Frage im Freundeskreis. Und die übliche Antwort, meist begleitet mit lautem Gelächter, weil sie alle schon kannten:  „Der halt‘ e Vortrach“! Wahlweise: „Der is noch uffem Gebortsdaach!“ oder „Der musst‘ noch zu enner Beerdichung!“ Irgendwann tauchte er dann doch noch auf, und die auf ihn gewartet hatten, erfuhren dann wieder einiges über weit verzweigte Familienbanden. Und irgendwie waren wir am Ende alle mit ihm verwandt. Fast alle jedenfalls.
Es ist traurig, aber jetzt wissen wir alle, wo Roland ist: auf dem kleinen Friedhof seines Heimatortes Steinwenden. 

Das führt zur nächsten Frage: „Wer ist Roland?“ Wer wissen will, wer dieser am 3. Februar 1951 geborene Roland Paul war, muss nach Steinwenden, nach „Schdennwiller“, dort ist er aufgewachsen, dort, direkt neben der protestantischen Kirche, war sein Refugium. Eine Kirche, der er ein Leben lang verbunden war. Aus dem Dorf, wie aus vielen anderen in der Umgebung, sind viele Menschen aufgebrochen, ausgewandert über den großen Teich, in die USA, nach Brasilien, als die Not zu groß war. Andere wurden verjagt, weil sie den falschen Glauben hatten.
Das Unrecht, das Millionen Menschen erleiden mussten – und der Mantel des Schweigens, der darüber gebreitet wurde – hat den jungen Historiker nicht ruhen lassen. Tausenden von jüdischen Männern, Frauen und Kindern hat er ihre Lebensgeschichte zurückgegeben – und so manchen Nachfahren der Ermordeten ein Stück Heimat. Das alles war nicht selbstverständlich, als er 1978 zum damals noch Heimatstelle Pfalz genannten Institut für pfälzische Geschichte und Volkskunde kam, dessen Direktor er später wurde und das er „ganz schön aufmischte“. So hat es einer formuliert, der dabei war.

Man kann auf die Frage „Wer ist Roland?“ aber auch nur mit einem Satz antworten. Ruth Mayer aus Metz, Saarländerin, die dem Nazi-Wahn durch die Flucht nach Frankreich entkommen war, hat über ihn gesagt: „Er war ein guter Mensch!“

Als er 2016 als Direktor des pfälzischen Instituts für Geschichte und Volkskunde ausschied, um danach noch ehrenamtlich die Arbeitsstelle „ Geschichte der Juden in der Pfalz“ zu leiten, kam aus Paris eine Botschaft des Anwalts, Holocaust-Überlebenden und Historikers Serge Klarsfeld:

„Seine Jahre damit zu verbringen nach den Namen jener zu suchen, die Opfer des Holocaust in der Pfalz, in Baden und an der Saar wurden, könnte manchem als unsinnige Freizeitbeschäftigung oder makabres Hobby erscheinen. Aber nein, diese Erinnerungsarbeit eines Historikers ist weder unsinnig noch makaber. Es ist kollektive Trauerarbeit, übernommen von einem einzigen Individuum. Es ist eine historische Arbeit, die das Schicksal der Juden erklärt: ihr Leben in einem Teil Deutschlands, ihren Tod – entweder in einem Land, das sich das unbesetzte Frankreich nannte und ein souveräner Staat war, oder in Auschwitz, da sie Hitler-Deutschland zuerst ausgewiesen und dann, zwei Jahre später, wieder zurückgeholt hat. In einem Hin-und-Her, von Nord-Ost nach Süd-West und wieder in die andere Richtung. Es ist eine Arbeit, wirkungsmächtiger als die eines Romanautors, denn Roland Paul hat vielen tausend Menschen wieder ihr Leben zurückgegeben, ein Leben, das ohne ihn unausweichlich auf den Müllhalden der Geschichte gelandet wäre. Da ich dieselbe Aufgabe wie er für die unglücklichen deutschen Juden für die Juden Frankreichs übernommen habe, bin ich sicher, dass er Recht hatte, seine Lebenszeit jenen zu widmen – nicht zu opfern! -, die dieses Lebens durch den Hass auf die Juden zu früh beraubt wurden.“ 

Danke Roland!

Dagmar Gilcher, Freinsheim am 26. Mai 2024

© Copyright - Literarische Lese Freinsheim