Kindheiten

Wussow, sechs setzen! 

Wieder hatte ich die Klassenarbeit verhauen. Dieser elende Mathelehrer. 

Entweder er erzählte von seinen Geschäften mit den Besatzungsamerikanern oder von seinen Kriegserlebnissen. Ich konnte ihn nicht leiden. Das Fach fand ich nicht uninteressant, aber diese Person war einfach unausstehlich mit seinen ewigen Heldengeschichten. 

Jetzt hieß es nach Hause gehen und die Note der Mutter beichten. Erst mal eine löten, dachte ich und nahm mir eine Zigarette aus der Marlboro Packung, die ich mir von meinem Taschengeld gekauft hatte. Freiheit und Abenteuer! Ich zog kräftig an der Zigarette, ein wenig fühlte ich den Werbeslogan! 

Diese elendig langweilige Schule: Ein humanistisches Gymnasium mit inhumanen Lehrern wie Herr Götz, unser Mathelehrer. 

Und jetzt stand ich vor meinem strengen, autoritären und genauso langweiligem Elternhaus. Mein Bruder ging auch auf diese langweilige Schule und brachte Bestnoten nach Hause. 

Ich dagegen, von Desinteresse geplagt, schrieb morgens vor Schulbeginn sämtliche Hausaufgaben von meinem Mitschüler Boris Ramtschow ab. Boris, Klassenbester, fuhr morgens mit dem Frühbus in die Schule und war als Erster in der Klasse. So war das Abschreiben gesichert. 

Nachmittags erwarteten mich dann diverse Nachhilfelehrer. Sie waren genauso langweilig und die Stunden zogen sich endlos hin. 

Nur der Deutschnachhilfelehrer, Herr Nowak, sprach mich an. Nicht inhaltlich. 

Ich hörte ihm gar nicht zu, sondern sah ihn liebestoll an und bewunderte seine Einliegerwohnung. Er war nicht der Schönste mit seinem viel zu frühen Haarausfall und seiner spätpubertären Aknehaut. Der Schnauzer allerdings gab ihm etwas Verwegenes. 

Abends, wenn ich im Bett lag, war das Kissen Herr Nowak und ich widmete mich mit Inbrunst ersten Kuss- und Knutschversuchen. Wie ist das wohl in echt, dachte ich. Es endete immer glücklich mit der Vorstellung, bald wieder zu ihm in die erregende Deutschnachhilfestunde zu kommen und ich schlief beseelt ein. 

Die Deutschnote verbesserte sich kein bisschen und nach einem Gespräch meiner Mutter mit Herrn Nowak wurden diese Stunden beendet. „Herr Nowak 

hat gemeint, du arbeitest nicht mit und dann kann die Nachhilfe nichts bringen“ begründete meine Mutter den Abbruch dieser aufregenden Stunden. 

Ich schaffte so gerade die Versetzung. 

Es kam das neue Schuljahr und ich saß neben einem neuen Schüler. Er war sitzen geblieben also ein Jahr älter als ich. Ich fand ihn mit seinen Klamotten attraktiv. Er rauchte selbstgedrehte Zigaretten und man konnte mit ihm über Gott und die Welt, bei mir eher über Eltern und Schule, reden. Er wohnte ganz in meiner Nähe und schon bald trafen wir uns fast täglich im nahegelegenen Wäldchen mit unseren Hunden, die sich auch gut verstanden. Meine Mutter staunte nicht schlecht, wie lange ich mit unserem Hund, einer kleinen Dackeldame, im Wäldchen spazieren ging. 

Hier im Wald auf der Bank mit Heiner und unseren Hunden hatte ich die schönsten Stunden. Wir alberten, rauchten und vertrauten uns viele Geheimnisse an, die uns belasteten. Er hörte mir zu und hatte Verständnis für meinen Kummer mit meiner Familie und der Schule. 

Und wenig später an einem wunderschönem Nachmittag im Wald auf unserer Bank gaben wir uns strahlend und in Echt : den 1. Kuss. 

Das Geheimnis

Ich sitze auf dem Boden hinter dem großen Steintisch und warte. 

Papa hat mir erklärt, dass dieses Gebilde in Wirklichkeit ein Luftschacht in den Bunker ist. Die Menschen, die drin sitzen, können so frische Luft bekommen. Eigentlich sitze ich also auf dem Bunker. Das hat irgendwas mit dem Krieg zu tun. Von allen umliegenden Gärten kann man auf diesen gemeinsamen Bunker – Berg gelangen. Wir Kinder spielen oft hier oben. Wir klettern auf Bäume und verstecken uns im Gebüsch. Manchmal stellen wir auf der großen Steinplatte auch Schneckenhäuser und schöne Steine aus. Ich bin gerne in dieser Wildnis.

Wo Hans-Peter so lange bleibt? Ob der alte Mann ihn doch noch gekriegt hat?

Die warme trockene Erde piekst in meine Oberschenkel. Es riecht nach Blüten. Und nach BASF. Oben im Baum sitzt ein Vogel in der Sonne und zwitschert. Schneckenhäuser und schöne Steine interessieren mich heute allerdings nicht. Hans-Peter und ich haben nämlich eine aufregende Entdeckung gemacht! Wir sind auf der anderen Seite den Bunker – Berg hinunter geklettert. Und tatsächlich haben wir eine Tür gefunden! Völlig verrostet, aber nicht verschlossen! Sie scheint in den Bunker zu führen. Als Hans-Peter daran gezogen hat, hat sie laut gequietscht.

„Gören! Macht, dass ihr wegkommt! Im Bunker habt ihr nichts verloren!“ 

Mit wütendem Geschimpfe hat uns ein alter Mann verjagt. 

Ich habe mich hinter dem Luftschacht versteckt. Hans-Peter ist schnell nach Hause gelaufen, um eine Taschenlampe zu holen. 

„Mareike! Wo bist du?“

O Schreck. Das war Mama. Sie hat gemerkt, dass ich abgehauen bin. 

„Mareike! Komm nach Hause! Haaausaaaufgaaaben!“

Vorsichtshalber mache ich mich hinter dem Steintisch noch etwas kleiner. Aber hier oben bin ich sicher. Mama wird mich nicht so schnell finden. Sie klettert nämlich nicht auf den Bunker. Sie hat Angst. Manchmal erzählt sie von Sirenengeheul und Bomben. 

Ob vielleicht noch Leute in dem Bunker drin sind? Oder Bomben?

Ich bin ja so gespannt! 

„Mareike!“

Das war Hans-Peter. Von der anderen Seite. 

„Pssst! Nicht so laut! Ich komme!“

Er hat die große Taschenlampe seines Vaters dabei. Gemeinsam schieben wir uns auf dem Bauch durchs Gebüsch. Ohne weiteres Gequietsche schlüpfen wir schließlich durch die rostige Tür. 

Zunächst sehen wir gar nichts. Eine modrige Kälte durchdringt unsere Kleidung. Wir frösteln. Dann gewöhnen sich unsere Augen an die Dunkelheit. Im Lichtkegel der Taschenlampe erkennen wir schließlich einen schmalen Gang. Vorsichtig tasten wir uns über die festgestampfte Erde vorwärts. 

„Hier! Schau mal!“

Der Gang öffnet sich nach links zu einem großen Raum. 

Hans-Peter leuchtet an der Wand entlang. 

„Bänke!“ 

Ob sie da gesessen haben im Krieg? Heute ist jedenfalls niemand da. Weiter hinten scheinen noch mehr Räume zu liegen. 

Ist das alles? Ein bisschen langweilig finde ich es schon.

Unter unseren Füßen raschelt es. Jetzt erst bemerken wir die dicken Zeitungsschichten, die den Boden bedecken.

„Gib mal die Taschenlampe, Hans-Peter!“ 

Irgendetwas muss doch auf diesem vergilbten Schriftstück doch zu erkennen sein. 

„Die ist von 1941!“ 

Auch er hebt eine Zeitung auf und hält sie ins Licht. „Die hier auch!“

Aber dann ist er enttäuscht. „Das ist ja alte Schrift! Das kann ich nicht lesen.“

Mein Märchenbuch ist in alter Schrift geschrieben. Deshalb kann ich sie lesen. 

„Da steht bestimmt was über den Krieg drin!“ 

Ich bin nicht zu bremsen.

„Wir haben einen Schatz gefunden!“

Auch Hans-Peter hat eine Idee: „Wenn du das lesen kannst, nehmen wir eine Zeitung mit nach Hause und dann sagen wir der Regierung, was im Krieg los war! Sonst weiß das ja keiner.“

„Au ja! Wir werden berühmt!“

Sorgfältig suchen wir ein möglichst wenig zerfleddertes Exemplar aus. Dann machen wir uns auf den Rückweg. Leider können wir die Zeitung nicht sofort aufschlagen. Sie ist zu feucht. Meine Aufgabe ist es deshalb, sie zuhause zu trocknen. In einer vagen Vorahnung schmuggle ich meinen Fund an Mama vorbei in den trockenen, warmen Heizungskeller. Eigentlich ist es hier viel zu sauber. Schade, dass wir den Kohleofen nicht mehr haben. Zum Anfeuern lagen hier immer alte Zeitungen herum. Niemandem wäre zusätzliches Papier aufgefallen. Mit einem unguten Gefühl lasse ich unsere Entdeckung hier auf dem Präsentierteller liegen. Aber einen besseren Platz gibt es nicht.

Als ich am nächsten Tag aus der Schule komme, ist die Zeitung verschwunden. 

Ich stelle Mama zur Rede. Sie hat sie tatsächlich weggeworfen! 

Ich fasse es nicht. Meinen Schatz, der die Geheimnisse des Krieges offenlegen sollte, hat sie zielsicher vernichtet! 

Warum hat sie es wohl so eilig gehabt? 

Ungerührt erklärt sie mir: „Die war doch völlig verdreckt!“

„Aber da stehen doch Sachen aus dem Krieg drin! Das wollten wir der Regierung sagen…“

Ich zähme meine Stimme, damit sie meine Empörung nicht verrät.

Mama wendet sich ab. 

„Das wissen die doch schon alles.“

Auch der Mülleimer spuckt das Geheimnis nicht mehr aus. 

Na warte! In mir brodelt es. Hans-Peter und ich werden Nachschub besorgen! Schließlich gibt es im Bunker noch mehr Zeitungen!

Heute stehen wir jedoch umsonst vor der rostigen Tür. Sie ist abgeschlossen. Da hilft kein Ziehen und kein Zerren. Sie bewegt sich keinen Millimeter. Sie quietscht nicht einmal.

Der alte Mann steht nebenan im Hof und raucht. Er hat uns den Rücken zugedreht. Ratlos sehen Hans-Peter und ich einander an.

Manche Geheimnisse dürfen wohl nicht gelüftet werden. 

Eva Sperber

Oma

Bohnerwachs und Bohnenkraut

Lebertran und Leberwurst

Klosterfrau Melissengeist.

Hühnersuppe, Fricassée

Bratkartoffeln, Chicorée

Eierkohlen, Malzkaffee.

Hasenstall und Katzenfell

Rheumatismus, Rippenfell 

Roter Wein mit Eigelb

für und gegen alles.

Inge Kirsch

Werde ich dabei sein wenn es passiert? (oder: Wann hört die Kindheit auf?)

Ich beobachte Alte und Junge,
Altgewordene und Junggebliebene
Und frage mich
Werde ich dabei sein, wenn es passiert?
Ich will im Wechsel zweier Dinge weiter leben alle Tage
Der Rausch, der Geist
Der Geist, der Rausch
Und immer diesen Wechsel wagen
Der Kopf, der Sinn
Der Geist, der Rausch
Ein Wechselspiel, das ohne Gegen
Den Reiz in Traurigkeit verliert
Der Rausch so scheint es ist der Zustand
In dem Ja, Nein oder Vielleicht
Als Antwort auf die Frage reicht.
Indem das was es noch zu verstenen gibt
Noch in ferner Zukunft liegt
So glaub ich
Oder bin mir sicher
Dass der Geist dem Rausch verschuldet
So fremd sich manchmal beide sind
Hieße ihre Trennung das verlorne Kind.

Sophie Breßler

Das rote Auge 

Heute werde ich das rote Augen treffen. Ich weiß es. Heute, in der 2. Stunde. 

Das rote Auge heißt Schuler, Werner mit Vornamen. Deschulerwerner ist der Schre-cken der Oberstufenprima. 

Aber ich weiß auch. Ich werde heute das Auge zweimal treffen. Spätestens am Abend, wenn ich den schussbereiten Ball vor mir liegen habe. 

Aber erst heißt es einmal, die Tafel abwischen. Deschulerwerner will eine saubere Ta-fel. Peter hat Tafeldienst. Peter Weiser. Deweiserpeter, langhaarig und meistens die Maobibel provokant auf dem Pult, geht mit dem tropfenden Schwamm vom Waschbe-cken quer durch den Raum zur Tafel. 

– Der Schwamm tropft, Weiser! 

– Ja, ich muss doch die Tafel abwischen; Herr Schuler. 

– Aber du versaust den ganzen Boden. Geh sofort zurück und drücke den Schwamm aus! 

Peter bleibt stehen. Der Schwamm tropft. Es bildet sich zwischen seinen Füßen eine Pfütze. 

– Wenn ich jetzt zurückgehe, ist das kontraproduktiv. Der Weg zurück ist weiter als bis zur Tafel. Dann wird es noch nasser. 

Deschulerwerner schnaubt. Es wird still. Mucksmäuschenstill. Man hört das Tropfen des Schwammes. 

Alle wissen: Gleich passiert etwas. Der Deschulerwernerkopf wird rot, schwillt an zu einem Ballon. Alle hören ein kleines „Klick“ in der Ruhe vor dem Sturm, eine Ader im Auge platzt und sekundenschnell füllt sich das Weiße mit dem Roten, der Klassensaal erstarrt unter dem Blick zu einem Eisblock, und dann gellt aus dem verzerrten Maul des stieren Bluthundes ein Schrei: 

– WEISER! 

Alle zucken zusammen. Nur Deweiserpeter steht ungerührt und tropft. Dann: 

– KLASSENBUCH! EINTRAG! ELTERNBRIEF! ZUSATZAUFGABEN! 

Deweiserpeter ist mittlerweile zur Tafel gegangen und hat sie abgewischt. Zurück am Waschbecken drückt er den Schwamm aus. 

– Ich habe den Schwamm jetzt ausgedrückt, Herr Schuler!

Mit einem leichten Knacksen bilden sich Risse im Eisklotz. Es rumort. Richtig lachen traut sich keiner. Aber die Unruhe reicht, dass Deschulerwerner seine Strafarbeit allen aufdrückt. Dann verlässt er den Saal. Gleich wird er mit dem Direx wiederkommen. 

Wir wissen auch schon, was morgen in der 3. Stunde passieren wird. De Schulerwerner zückt nach Beginn der Stunde sein Notenbüchlein und zitiert wie zufällig Deweiserpe-ter an die Tafel. Der muss alle Aufgaben anschreiben. Und dann erklären, vor der Klasse, wie er sie gelöst hat. 

Der Mathelehrer führt den Beweis: 

– Weiser, du hast keine Ahnung. 

– Weiser, du hast deine Aufgaben von deinem Nachbarn abgeschrieben! 

– Weiser! Bei mir bekommst du kein Abitur. Note sechs. Setz dich! 

Quod erat demonstrandum. 

Ich war froh, dass der schwarze Pädagoge mit dem roten Auge heute einen anderen Langhaarigen ausgesucht hat. Wie oft stehe ich da vorne und lasse mir erklären, coram publico, dass ich ein Taugenichts bin und niemals das Abitur schaffen werde. 

– Niemals, Theis! 

Unsere Freiheitsgefühle kollidieren permanent mit der Mauer, die unsere Erzieher um uns hochziehen. 

Wir graben aber Lücken in unsere Bollwerke. Durch die schlüpfe ich am Abend hin-durch, raus in die Freiheit des Sportplatzes. Fußball ist logisch und rational wie Mathe. Aber ich verstehe leider nur die Regeln mit dem Ball am Fuß. 

Die Bemerkungen aller Schulerwerners am Spielzeugrand, „Der kennt aa mol widder zum Friseur gehn!“, wische ich weg mit meinen wehenden Haaren. Mit jedem Dribbling umspiele ich locker die Verständnislosigkeit meiner Mauern. Und dann, wenn der Ball gut vor meine Füße zu liegen kommt, treffe ich knallhart und zielgenau: 

mitten ins rote Auge. 

Der Kirschbaum.

Er blüht immer, das ganze Jahr.

Die Schaukel am Ast.

Hinauf in den Himmel.

Hinunter zur Erde.

Aufschwung.

Abschwung.

Ein ganzes Leben.

Eine Welt, in der alles ist.

Alles ist Wirklichkeit.

Schneewittchen wohnt in unserem Garten.

In der Werkstatt hinterm Hühnerstell hausen ihre sieben Zwerge.

Den kleinen Muck sehe ich zwischen den Beeten herumhüpfen.

Pass auf, komm bloß der Schaukel nicht zu nahe, kleiner Muck!

Gleich sause ich zur Erde.

Schnell, zieh deine großen Pantoffeln an und fliege fort!

Von der Treppe hinterm Haus ruft der Vater zum Abendessen.

Frau Holle, die eben noch ihre Betten ausschüttelte, ist mit einem Mal

verschwunden.

Vom Kirschbaum fallen kleine weiße Blütenblätter auf die verlassene

Schaukel.

Brunhild Bast